ZUSAMMENFASSUNG DER DISSERTATION

 

 

Das Selbst im eigenen und (vermeintlichen) fremden Spiegel:

Entfremdung aus Mangel an gemeinsamer Realität bezüglich des eigenen Selbst.

 

Ein interdisziplinärer Zugang (Literatur, Theologie, Philosophie, Soziologie und Psychologie) zum vielgestaltigen Phänomen Entfremdung bildet den theoretischen Hintergrund der Forschungsarbeit. Das Konstrukt Entfremdung wird als Überbegriff verwendet, der Einsamkeit, soziale Isolation, Machtlosigkeit, Bedeutungs- und Sinnlosigkeit, Regel-, Werte- und Normenlosigkeit, sowie Kulturelle und Selbstentfremdung umfasst. Die vorliegende Studie untersucht den Zusammenhang zwischen nicht übereinstimmenden (ungeteilten) Selbstbildern und Entfremdungs-bezogenen Problemen. Gemäß Hardin & Higgins (in Druck) hilft gemeinsame Realität (1) soziale Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten, und (2) das Verständnis des Individuums von Selbst und Welt zu strukturieren. Daraus folgt, daß bei einem Zusammenbruch oder Mangel an gemeinsamer Realität das Individuum einen Zusammenbruch oder Defizit an (1) sozialen Beziehungen und (2) Verständnis von Selbst und Welt erlebt. Ein Zusammenbruch oder Defizit an sozialen Beziehungen wird mit Einsamkeit und sozialer Isolation einhergehen. Ein Zusammenbruch oder Defizit an Verständnis von Selbst und Welt wird mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Machtlosigkeit, der Sinnlosigkeit und Bedeutungslosigkeit, sowie mit Regel- und Normenlosigkeit, kultureller und Selbstentfremdung einhergehen.

 

Die Entfremdungs-Hypothese wurde in einer Fragebogenstudie mit 360 Studenten der Columbia University getestet. Mit dem Selbst-Diskrepanzfragebogen (Higgins et. al., 1985) wurden eigene und (angenommene) fremde Selbstbilder (Vater, Mutter, bester Freund, Menschen im allgemeinen) erhoben. Die von den Untersuchungsteilnehmern aufgelisteten Attribute zur Beschreibung des eigenen, tatsächlichen Selbstbildes werden mit jenen Eigenschaften verglichen, die in den (vermeintlichen) fremden Selbstbildern aufscheinen und entweder als gemeinsam (idente und synonyme Attribute) oder nicht-gemeinsam (isolierte und antonyme Attribute) klassifiziert. Mit Hilfe einer Matrix wird der prozentuelle Anteil an nicht-gemeinsamen Eigenschaften ermittelt. Der Zusammenhang dieser ungeteilten Selbst-Attribute mit verschiedenen Entfremdungs- und Einsamkeitsfragebögen (z. B. diverse MMPI-Subskalen, UCLA loneliness scale) wird schließlich berechnet. Es zeigt sich, dass entsprechend der Hypothese signifikante Korrelationen von nicht übereinstimmenden Selbstbildern mit allen verwendeten Erhebungsinstrumenten bestehen. Diese Ergebnisse belegen erstmals eindrucksvoll, dass ein Mangel an gemeinsamer Realität (umgangssprachlich gesprochen an gemeinsamem Erleben) mit entfremdungsbezogen Gefühlen und Erleben einhergeht.

 

Wien, im März 1996