Seminararbeit

 

 

Thema 1:

Sozialpsychologische Theorien zu Urteilen, Entscheidungen, Leistung und Lernen in Gruppen

von S. Schulz-Hardt et al.

(Stefan Schulz-Hardt, Tobias Greitemeyer, Felix C. Brodbeck und Dieter Frey)

 

 

Artikel in: D. Frey & M. Irle (Hrsg.) (2002). Theorien der Sozialpsychologie. Band II: Grupen-, Interaktions- und Lerntheorien. Bern: H. Huber (2. erw. Aufl.), S. 13-41.

 

 

 

 

 

PS 27408 Spezifische Schwerpunkte:

Selbstbild und Selbstwert

Dr. Helga E. Schachinger

WS 06/07

 

 

 

 

eingereicht von:

Helga Schaffer

Matr. Nr.: a0101951

E-mail: helga_schaffer@hotmail.com


Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Einleitung............................................................................................. 3

 

  1. Gruppenurteile und Gruppenentscheidungen.......................................... 3

2.1.         Zwei exemplarische Phänomene: Gruppenpolarisierung und suboptimale Entscheidungen im „Hidden Profile“ Paradigma……………………….3

2.1.1.   Gruppenpolarisierung............................................................ 3

2.1.2.   Suboptimale Entscheidungen im „Hidden Profile“ Paradigma.... 4

2.2.         Zentrale theoretische Strömungen und ihre Erklärung für die exemplarischen Phänomene………………………………………………………………………….4

2.2.1.   Informationale Ansätze......................................................... 4

2.2.2.   Normative Ansätze............................................................... 5

2.2.3.   Integrationsversuche............................................................ 7

2.2.4.   Soziale Entscheidungsschemata............................................ 8

2.2.5.   Individualpsychologische Ansätze.......................................... 9

 

  1. Gruppenleistung................................................................................. 10

3.1.         Individuelle Leistung bei Anwesenheit anderer: Soziale Aktivierung (social facilitation) vs. Soziale Hemmung (social inhibition)………………………………………………………………………………………………….………10

3.2.         Leistung in interagierenden bzw. interdependenten Gruppen………..11

3.2.1.   Potentielle Gruppenleistung in Abhängigkeit vom Aufgabentyp 12

3.2.2.   Klassische Erklärungsrichtungen: Koordinations- und Motivationsprozesse       12

3.2.3.   Kognitive Prozesse............................................................. 13

 

  1. Gruppenlernen................................................................................... 14

4.1.         Individuelles Lernen in Anwesenheit anderer……………………………..…14

4.2.         Sozial vermitteltes individuelles Lernen…………………………………………14

4.2.1.   Sozio-kognitiver Konflikt..................................................... 14

4.2.2.   Internalisierung von Strategien durch kollektives Handeln...... 15

4.2.3.   Beobachtungslernen........................................................... 15

4.3.         Kollektives Lernen in Gruppen……………………………………………………….16

 

  1. Zusammenfassung und Ausblick......................................................... 17

 

  1. Literaturverzeichnis............................................................................ 17

1.  Einleitung

 

In demokratischen Gesellschaften und Organisationen werden wichtige Entscheidungen vermehrt von Gruppen getroffen. Auf Gruppenebene sind mehr Ressourcen intellektueller Art verfügbar als auf individueller Ebene und daher sollten Gruppen zu qualitativ höherwertigen Entscheidungen führen. Der resultierende Output einer Gruppe ist dabei von zentralem Interesse. In diesem Artikel werden die Themen Gruppenurteile und Gruppenentscheidungen, Gruppenleistung, sowie Gruppenlernen behandelt. Dabei wird immer von grundlegenden Theorien ausgegangen und dazu werden vereinzelte Phänomene erklärt. 

 

 

2.   Gruppenurteile und Gruppenentscheidungen

 

2.1.       Zwei exemplarische Phänomene: Gruppenpolarisierung und suboptimale Entscheidungen im „Hidden Profile“ Paradigma

 

Eine Entscheidung in Gruppen kommt durch das Zusammenführen der Beiträge der einzelnen Mitglieder zustande. Es gibt unterschiedliche Arten von Beiträgen:

 

a) ein Mitglied bringt Wissen ein, und

b) ein Mitglied verfügt über eine Meinung zum Problem

 

Diese individuellen Beiträge werden in der Gruppe zu Urteilen und Entscheidungen zusammengefügt, dabei ergeben sich zwei Phänomene:

 

2.1.1.     Gruppenpolarisierung

 

Stoner (1961, zitiert nach Schulz-Hardt, Greitemeyer, Brodbeck & Frey, 2002, S. 15) machte im Zuge von Untersuchungen zum „Choice Dilemma Questionnaire (CDQ)“ eine interessante Entdeckung. In diesem Fragebogen ist die Versuchsperson vor eine hypothetische Wahlsituation mit einer sicheren und einer riskanten Alternative gestellt. Sie muss angeben ab welcher Erfolgswahrscheinlichkeit sie sich für die riskante Alternative entscheiden würde. Stoner fand heraus, dass Gruppenentscheidungen und auch Individualentscheidungen nach einer Gruppendiskussion riskanter ausfielen als Individualentscheidungen vor der Diskussion. Dieses Phänomen wurde als „risky shift“ (Risikoschub) bezeichnet. Einige Jahre später entdeckten Moscovici und Zavalloni (1969) ein allgemeineres Phänomen, die Gruppenpolarisierung: Wenn der Durchschnitt der Gruppenmitglieder vor der Diskussion schon in Richtung Risikofreudigkeit tendiert, dann verstärkt sich diese Neigung durch die Gruppendiskussion noch. Auch im umgekehrten Fall, wenn die Mitglieder eher vorsichtig sind, dann wird diese Tendenz durch die Gruppendiskussion noch verstärkt.

 

2.1.2.     Suboptimale Entscheidungen im „Hidden Profile“ Paradigma

 

Von  Gruppenentscheidungen nimmt man an, dass sie eine höhere Qualität haben als Einzelentscheidungen oder soziale Kombinationen. Bei sozialen Kombinationen werden Einzelentscheidungen unabhängig voneinander abgegeben und dann nach einer bestimmten Aggregationsregel zusammengeführt.

Angenommen eine Gruppe muss sich für eine von zwei Alternativen entscheiden. Für jede Alternative gibt es geteilte und ungeteilte Informationen. Geteilte Informationen sind solche, die jedem Gruppenmitglied schon vor der Gruppendiskussion bekannt sind. Über ungeteilte Informationen verfügt jedoch nur ein Mitglied. In der Diskussion können die ungeteilten Informationen vermittelt werden. Wenn die geteilten und die ungeteilten Informationen die gleiche Entscheidung nahe legen, so kann sich durch den Wissenserwerb keine höhere Qualität der Entscheidung ergeben. Führt die ungeteilte Information jedoch zu einer anderen Entscheidung als die geteilte, und ist die Entscheidung, die aufgrund der ungeteilten Information getroffen wird, die bessere, so stecken wir in einer „Hidden Profile“- Situation (verstecktes Profil). Bei einem Hidden Profile wird die beste Alternative erst durch die Diskussion aufgedeckt, weil ja nur ein Mitglied über die ungeteilte Information verfügt. Somit ist das Hidden Profile eine Situation in der die Gruppenentscheidung eine höhere Qualität aufweist als die Individualentscheidung. Leider zeigten Stasser und Titus (1985, zitiert nach Schulz-Hardt et al. 2003, S. 16), dass Gruppen bei der Bearbeitung von Hidden Profiles meistens scheitern. Die Gruppe trifft eine Entscheidung, die aufgrund der geteilten Informationen und der Individualurteile die beste zu sein scheint, statt derjenigen Entscheidung, die aufgrund ALLER Informationen die beste ist.

 

2.2.       Zentrale theoretische Strömungen und ihre Erklärung für die exemplarischen Phänomene

 

Nach Deutsch und Gerard (1955, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 17) gibt es zwei Hauptströmungen, nämlich informationale und normative Ansätze. Soziale Entscheidungsschemata sind hiervon abzugrenzen, sie fragen danach wie Gruppenurteile bzw. –entscheidungen aus Individualurteilen vorherzusagen sind.

 

2.2.1.     Informationale Ansätze

 

Informationalen Ansätzen zufolge, sind Gruppenurteile und –entscheidungen auf die innerhalb der Gruppe ausgetauschten Sachinformationen zurückzuführen. D.h. die Gruppe trifft die Entscheidung aufgrund der ausgetauschten Information, die die gewählte Alternative begünstigt.

Vinokur und Burnstein (1974, zitiert nach Schulz-Hardt et al. 2002, S. 18) formulierten die „persuasive arguments theory“, die annimmt, dass Urteile durch rationale Schlussfolgerungen aus der vorhandenen Information zu Stande kommen. Jedem Mitglied sind schon vor der Diskussion einige Argumente bekannt. Je nach dem wie viele und wie stark diese eigenen Argumente in eine Richtung tendieren, also eher risikofreudig oder sicher, bildet sich die Person vorab schon eine Meinung. In der Diskussion lernt das Mitglied neue Argumente von anderen Mitgliedern der Gruppe kennen. Die Person wird in der Gruppendiskussion eher diejenigen neuen Argumente wahrnehmen und in ihr Urteil mit einbeziehen, welche auch in die von ihr eingeschlagene Richtung gehen. Die Diskussion dient also dazu, den Mitgliedern das ihnen unbekannte Wissen zugänglich zu machen.

Stasser (1988, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 18) bzw. Stasser und Titus (1987, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 18) nehmen jedoch als Ursache für das Scheitern einer Gruppe bei der Lösung eines Hidden Profiles eine Asymmetrie der Gruppendiskussion an. Geteilte Informationen werden in der Diskussion häufiger genannt und wieder aufgegriffen, weil sie jedem Mitglied bekannt sind. Ungeteilte Informationen hingegen werden viel seltener eingebracht und auch seltener aufgegriffen. Um ein Hidden Profile lösen zu können, müssen aber die ungeteilten Informationen ausgetauscht und integriert werden. Die mangelnde Präsenz von ungeteilten Informationen liefert also eine informationale Erklärung für die seltene Lösung von Hidden Profiles. Je mehr ungeteilte Informationen in eine Diskussion eingebracht werden, desto höher ist die Entscheidungsgüte von Hidden Profiles.

 

2.2.2.     Normative Ansätze

 

Während sich die informationalen Ansätze auf die in der Diskussion ausgetauschten Informationen und Argumente konzentrieren, geht es bei den normativen Ansätzen um das „Bestreben von Gruppenmitgliedern, sich zu den Erwartungen anderer Gruppenmitglieder konform zu verhalten und dadurch positiv bewertet zu werden.“ (Deutsch & Gerard, 1955, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 19). Als primäres Ziel der Gruppenmitglieder wird Konsensfindung angenommen. Außerdem möchten Mitglieder, dass ihre Meinung im Gruppenprodukt berücksichtigt wird, was wiederum ein Aushandeln der Entscheidung bewirkt. Nach Gigone und Hastie (1993, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 19) führen nicht der verzerrte Informationsaustausch, sondern falsche individuelle Präferenzen zu falschen Gruppenurteilen. Falls sich die Gruppenmitglieder von Anfang an einig sind, so findet keine Verhandlung statt, sondern die gemeinsame Meinung wird übernommen und nicht mehr hinterfragt. Auch wenn keine Übereinstimmung herrscht, wird nur über diejenigen Argumente verhandelt, die anfangs von zumindest einem Mitglied präferiert wurden. Im Hidden Profile sollte hingegen kein Mitglied vorab die richtige Alternative präferieren. Gigone und Hastie (1993, 1997, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 19) zeigten, dass „die Gruppenentscheidungen in ihren Studien fast nur von den anfänglichen Präferenzen abhingen und die ausgetauschten Informationen keinen über die Präferenzen hinausgehenden Einfluss auf die Entscheidung ausübten.“ (Schulz-Hardt et al., 2002, S. 19).

Vertreter normativer Ansätze nehmen an, es gäbe sozial positiv bewertete und sozial weniger positiv (oder sogar negativ) bewertete Urteile. Das am positivsten bewertete Urteil bezeichnet man als „antizipierte Norm“.

 

Es gibt zwei Varianten der normativen Erklärung für Gruppenpolarisierung:

 

  1. Variante: pluralistische Ignoranz: Die Gruppenmitglieder geben vor der Diskussion ein Urteil ab, das als Kompromiss zwischen dem eigenen Standpunkt und der antizipierten Gruppennorm, also des am positivsten bewerteten Urteils, gesehen wird. Da die Mitglieder aber die Gruppennorm unterschätzen, also ihr eigenes Urteil als zu extrem sehen, ist ihr erstes Individualurteil in Richtung Skalenmittelpunkt verschoben. In der Diskussion lernen sie die Gruppe einzuschätzen und korrigieren nach der Diskussion korrigieren ihr Urteil.

 

  1. Variante: Hier wird angenommen, das erste Urteil sei unverzerrt. Mitglieder wollen sich von der übrigen Gruppe abgrenzen und geben somit nach der Diskussion noch extremere Urteile an als die Gruppe.

 

Hier konnte gezeigt werden, dass schon allein das Wissen über die Meinung anderer, ohne Gruppendiskussion, Polarisierungseffekte auslösen kann.

 

Janis (1982, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 20) definierte das „Groupthink“-Modell. Groupthink stellt dabei „ein übermäßiges Streben nach Einmütigkeit und Harmonie in einer Gruppe, das einen kritischen Diskurs verhindert“, (Schulz-Hardt et al., 2002, S. 20) dar. Dadurch, dass die Mitglieder nach Harmonie streben, treten Symptome wie Engstirnigkeit, Konformitätsdruck und Selbstzensur auf, was wiederum zu Fehlern im Entscheidungsprozess führt. Im Hidden Profile werden suboptimale Entscheidungen durch individuelle Präferenzen getroffen. Ungeteilte Informationen werden oftmals unterdrückt, weil sozialer Druck innerhalb der Gruppe besteht, oder weil die Person daran gehindert wird ihren Standpunkt zu vertreten, weil ihre Meinung zu stark von der in der Gruppe dominierenden Meinung abweicht. Groupthink tritt nach Janis (1982, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 20) nur dann auf, wenn die Gruppe extremem Entscheidungsstress ausgesetzt ist, z.B. wenn alle Alternativen zu gravierenden Verlusten führen, und wenn die Gruppenstruktur vorschnelle Konsensfindung fördert (direktive Führung, Abschottung nach außen, homogener sozialer und ideologischer Hindergrund, keine festgelegten Prozeduren der Entscheidungsfindung). In eng zusammenhaltenden Gruppen kann Groupthink Stress reduzieren. Allerdings sind die empirischen Nachweise uneindeutig.

 


2.2.3.     Integrationsversuche

 

Aus heutiger Sicht werden sowohl normative als auch informationale Ansätze für die Erklärung von Gruppenpolarisierung und Hidden-Profile-Entscheidungen herangezogen. Dabei gibt es verschiedene Integrationsversuche:

 

  1. Integrationsmöglichkeit: Additive Zusammenführung der beiden Einflusspfade: man nimmt an, dass Entscheidungsfehler sowohl durch spezifischen Informationsaustausch als auch durch soziale Normen bedingt sind. Nach dem „Dual process model“ von Winquist und Larson (1998, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 21) bedingen die fehlerhaften Präferenzen einen suboptimalen Konsens. Die Nennung ungeteilter Informationen könnte diesen korrigieren, aber meist werden nur geteilte Informationen diskutiert.

 

  1. Integrationsmöglichkeit: Bestimmung relevanter Moderatorvariablen, unter welchen Bedingungen der normative oder der informationale Einfluss stärker ist. Kaplan und Miller (1987, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 21) unterscheiden zwischen „intellective issues“ (Aufgaben mit einer eindeutig richtigen Lösung) und „judgmental issues“ (Meinungsfragen). Sie nehmen an, dass bei ersterer informationale Einflüsse dominieren sollten und bei letzterer die normativen. Die Dominanz eines bestimmten Einflusses sollte bei einstimmigen Urteilen stärker sein als bei Mehrheitsbeschlüssen, weil ersteres eine intensivere Diskussion erfordert. Tatsächlich kommt es aber nur bei Meinungsfragen unter der Einstimmigkeitsregel zu Polarisierungseffekten. Auch Winquist und Larson (1998, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S.22) postulieren, dass bei einer geringen Einigkeit der Gruppenmitglieder informationale Prozesse dominieren sollten. Diese Annahme bestätigen Studien von Greitemeyer et al. (2002) und Brodbeck et al. (2002).

 

 

  1. Integrationsmöglichkeit: Spezifikation, in welcher Weise Prozesse der einen Kategorie Einfluss auf Prozesse der anderen Kategorie nehmen. Pavitt (1994, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 22) formulierte den „präferenzkonsistenten Diskussionsstil“, wonach Gruppenpolarisierung durch das Hinzulernen neuer Argumente zu Stande kommt. (informationaler Ansatz) Hauptsächlich werden aber urteilskonforme Argumente in die Diskussion eingebracht. (normativer Ansatz) Ungeteilte Informationen, die den Präferenzen der Gruppe widersprechen werden nicht genannt.

 

  1. Integrationsmöglichkeit: Informationale und normative Prozesse auf ein gemeinsames Prinzip zurückführen: Auf Grundlage der Theorie der sozialen Identität versucht man sich mit einer In-Group zu identifizieren und man will sich dem Prototyp angleichen (normativer Einfluss). Dieser Prototyp wird aus den von Gruppenmitgliedern mitgeteilten Informationen erschlossen (informationaler Einfluss). Wenn die Out-Group z.B. risikofreudig ist, so polarisiert die In-Group eher auf Vorsicht, weil der eigene In-Group-Prototyp durch diesen Referenzpunkt anders wahrgenommen wird. (Hogg, Turner & Davidson, 1990, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 23).

 

2.2.4.     Soziale Entscheidungsschemata

 

Soziale Entscheidungsschemata versuchen das Gruppenurteil aus den vor der Diskussion bestehenden Individualurteilen VORHERZUSAGEN. Dabei greifen sie auf verschiedene Kombinationsregeln zurück. „Kombinationsregeln geben an, in welcher Weise aus den individuellen Positionen der Gruppenmitglieder eine Gruppenposition gebildet wird.“ (Schulz-Hardt et al., 2002, S. 23).

 

Die Theorie der sozialen Entscheidungsregeln von Davis (1973, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 23) spezifiziert verschiedene Regeln:

 

a)    Die Wahrheit gewinnt: Die Gruppe trifft die richtige Entscheidung, wenn zumindest ein Gruppenmitglied diese vertritt.

b)    Die unterstützte Wahrheit gewinnt: Die Gruppe entscheidet sich für die richtige Lösung, wenn zumindest zwei Gruppenmitglieder diese vertreten.

c)     Majorität: Die Gruppe entscheidet sich für die Alternative, die von der Mehrheit vertreten wird.

d)    Proportionalität: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Alternative von der Gruppe ausgewählt wird, ist proportional zu der Häufigkeit, mit der diese Alternative von den Gruppenmitgliedern präferiert wird.

e)    Gleichwahrscheinlichkeitsregel: Jede der vorgeschlagenen Alternativen wird mit der gleichen Wahrscheinlichkeit von der Gruppe ausgewählt, unabhängig von der Anzahl der Gruppenmitglieder, die diese vertreten. (Davis, 1973, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 23 - 24)

 

„Die Vorhersagegüte der verschiedenen Modelle hängt hauptsächlich vom Aufgabentyp ab. Bei Problemlöseaufgaben mit richtiger Lösung treffen die Aggregationsregeln „die Wahrheit gewinnt“ bzw. „die unterstützte Wahrheit gewinnt“ die besten Vorhersagen. Dagegen ist bei Entscheidungsaufgaben mit keiner offensichtlich richtigen Lösung die Mehrheitsregel der beste Prädiktor für die Gruppenentscheidung.“ (Laughlin, 1980, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 24).

 


Soziale Entscheidungsschemata können in unterschiedlicher Weise genutzt werden:

 

  1. Man kann sie als Prognoseinstrument für Gruppenentscheidungen bei bekannten Individualurteilen einsetzen. Sie sagen alle vorher, dass das Hidden Profile nicht gelöst wird.

 

  1. Man kann soziale Entscheidungsschemata als Gruppenprozess ansehen. Oftmals bestehen Entscheidungen einfach nur aus einer Zusammenführung individueller Meinungen durch eine Entscheidungsregel. Es findet also kein Aushandeln mehr statt sondern nur ein Auszählen der Präferenzen. Klarerweise kann so das Hidden Profile nicht gelöst werden. Crott, Szilvas und Zuber (1991, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 25) nennen die Median-Regel, nach der die Meinung des „mittleren“ Gruppenmitglieds als Kompromiss zur Lösung herangezogen wird. Aus der Tatsache, dass sich Gruppenentscheidungen durch Entscheidungsregeln vorhersagen lassen, darf man aber nicht automatisch zurück schließen, dass auf Gruppenebene vorrangig Entscheidungsregeln angewendet wurden. (Analogie: Wenn man die Flugbahn eines Vogels mathematisch berechnen kann, so heißt das noch lange nicht, dass im Kopf des Vogels mathematische Kalkulationen ablaufen.)

 

  1. Man kann sie auch als „Detektor“ für psychologische Phänomene in der Gruppendiskussion verwenden. Angenommen in einer Hidden-Profil-Studie finden die meisten Gruppen die richtige Lösung nicht und dieses Ergebnis kann sehr gut nach der Mehrheitsregel vorhergesagt werden; die Gruppe hat aber keine vorschnelle Entscheidung getroffen, dann kann dieses Ergebnis mit informationalen und normativen Ansätzen erklärt werden.

 

2.2.5.     Individualpsychologische Ansätze

 

In letzter Zeit sind theoretische Ansätze entstanden, die zeigen, dass Gruppenphänomene auch alleine aufgrund individualpsychologischer Mechanismen entstehen können, also ohne normative oder informationale Gruppenprozesse. Nach Brauer, Judd und Gliner (1995, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 26) genügt es, in der Diskussion öfters seinen Standpunkt zu vermitteln oder diesen vermehrt zu hören, um eine Extremisierung dieses Standpunktes auszulösen. In Experimenten dazu konnte nachgewiesen werden, dass die Wiederholungshäufigkeit und die Darbietungshäufigkeit zu systematischen Polarisierungseffekten führen.

 

Greitemeyer und Schulz-Hardt (im Druck) zeigen, dass Hidden-Profiles auch ohne normative oder informationale Fehler scheitern können. In ihren Experimenten erhielten Probanden dieselben Informationen wie in der Gruppensituation, jedoch lasen sie ein Protokoll der Diskussion anstatt sie selbst durchzuführen. Die Lösung scheiterte in mehr als 80 % der Fälle. Als Grund nennen Greitemeyer und Schulz-Hardt (im Druck), dass die Probanden präferenzstützende Informationen für glaubwürdiger und wichtiger hielten als präferenzkonträre. Das führt dazu, dass man ungeteilte neue Information während der Diskussion zwar registriert, aber als unwichtig und unglaubwürdig hält und daher an der anfänglichen Präferenz festhält.

 

Individualpsychologische Ansätze schließen normative und informationale Prozesse nicht aus, sie wollen darauf hinweisen, dass es, um Gruppenprozessen entgegenzusteuern, nicht ausreicht, Prozesse auf Gruppenebene zu optimieren. Man sollte messen welches Ergebnis auf Gruppenebene zu erwarten ist, wenn keine Gruppenprozesse stattfinden.

 

 

3.  Gruppenleistung

 

Zentrale Fragen sind „diejenigen Mechanismen zu bestimmen, die sich förderlich oder hinderlich auf den quantitativen und/oder qualitativen Output bei Gruppenarbeit auswirken.“ (Schulz-Hardt et al., 2002, S. 27).

 

3.1.       Individuelle Leistung bei Anwesenheit anderer: Soziale Aktivierung (social facilitation) vs. Soziale Hemmung (social inhibition)

 

Schon allein die Anwesenheit anderer kann zu sozialer Aktivierung oder sozialer Hemmung führen. Dabei müssen die anderen Personen nicht zwangsläufig die gleichen Aufgaben bearbeiten, sie können auch nur Zuschauer sein. Aus heutiger Sicht kann gesagt werden, dass bei einfachen Routine-Aufgaben die Anwesenheit anderer zu Leistungssteigerungen führen. Bei der Bearbeitung neuer und schwieriger Aufgaben treten jedoch Leistungsminderungen im Vergleich zur individuellen Bearbeitung auf. Allein das Wissen beobachtet zu werden übt eine Wirkung auf die Leistung aus, wie z.B. bei elektronischer Überwachung von Bildschirmarbeit. Es haben sich zwei Kategorien an Erklärungsansätzen herauskristallisiert:

 

  1. Ansätze, die annehmen, dass durch die Anwesenheit anderer bei beiden Aufgabentypen dieselbe Reaktion auftritt: Zajonc (1965), Cottrell (1968) und Sanders (1981) gehen davon aus, dass „durch die Anwesenheit anderer ein Erregungszustand auftritt und somit das Aktionsniveau erhöht wird. Dieses erhöhte Aktionsniveau begünstigt dominante Reaktionen. Dominante Reaktionen sind solche, bei denen die Auftretenswahrscheinlichkeit in der Reizsituation erhöht ist gegenüber anderen Verhaltensreaktionen. Bei leichten Aufgaben ist diese Reaktion förderlich und führt zu besseren Leistungen, während sie bei schwierigen Aufgaben zu falschen Reaktionstendenzen führt, da man hier die richtige Reaktion selten bereits als dominante Reaktion gespeichert hat.“ (Schulz-Hardt et al., 2002, S. 29). Die drei Ansätze unterscheiden sich hinsichtlich des Prozesses der durch die Anwesenheit anderer ausgelöst wird. Zajonc (1965) nimmt eine angeborene Reaktion des Organismus an. Cottrell (1968) sieht dies als erlernten Prozess und Sanders (1981) argumentiert, dass ein Aufmerksamkeits-Reaktionskonflikt vorliegt, weil ein Teil der Aufmerksamkeit auf die andere Person gerichtet ist und somit von der Aufgabe ablenkt. Cottrell und Sanders nehmen somit kognitive Prozesse an, während Zajonc eine angeborene Reaktion postuliert. Cottrell (1968) fand in einer Studie heraus, dass kognitive Prozesse die Effekte moderieren können, allerdings nur bei einem aufmerksamen Publikum. Clayton (1978) konnte solche Effekte auch bei Tieren beobachten, die  zu solchen kognitiven Prozessen nicht fähig sein dürften. Somit können kognitive Prozesse zwar an sozialen Aktivierungs- und Hemmungseffekten beteiligt sein, sind aber keine notwendige Voraussetzung. (Schulz-Hardt et al., 2002, S. 29).

 

  1. Ansätze, die unterschiedliche Prozesse annehmen, die bei den beiden Aufgabentypen auftreten und somit auch zu unterschiedlichen Leistungseinflüssen führen. Sanna (1992, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 29) argumentiert, dass man bei leichten Aufgaben eine positive Bewertung erwartet und bei schwierigen Aufgaben eine negative Bewertung. Somit fördern positive Erwartungen die Leistung und negative Bewertungserwartungen hemmen sie. Da dieser Ansatz auf kognitiven Prozessen basiert, kann er nicht als umfassende Erklärung herangezogen werden. Nach dem Modell von Blascovich, Mendes, Hunter und Salomon (1999, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 30) erhöht die Anwesenheit anderer die Relevanz der Aufgabe und führt somit zu einem erhöhten Erregungsniveau. Dieses gesteigerte Erregungsniveau kann zu verschiedenen Mustern von physiologischen, kognitiven und affektiven Prozessen führen, je nachdem, ob die Person die eigenen Ressourcen für die Bewältigung der Aufgabe als ausreichend wahrnimmt oder nicht. Werden die Ressourcen als ausreichend erlebt, so entsteht ein so genanntes „Herausforderungsmuster“ (challenge pattern) während beim Erleben von ungenügenden Ressourcen ein „Bedrohungsmuster“ (threat pattern) resultiert. Das erste Muster erhöht die Leistung und das zweite hemmt sie.

 

3.2.       Leistung in interagierenden bzw. interdependenten Gruppen

 

Die Annahme, dass Gruppen höherwertige Leistungen erbringen als Individuen, wurde auf das gegenseitige Korrigieren von Fehlern der Gruppenmitglieder zurückgeführt. Lorge und Solomon (1955, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 31) zeigten, dass Gruppen ihre Ressourcen bei weitem nicht optimal nutzen. Daraus entwickelte sich das Prinzip, potentielle Leistungen realen Leistungen gegenüberzustellen und nach Mechanismen für diese Diskrepanz zu suchen.

 

3.2.1.     Potentielle Gruppenleistung in Abhängigkeit vom Aufgabentyp

 

Die potentielle Leistung einer Gruppe ergibt sich aus der Zusammenführung der individuellen Leistungsfähigkeiten der einzelnen Gruppenmitglieder mittels einer Kombinationsregel. Welche Kombinationsregel angewendet wird, hängt vom Aufgabentyp ab; hier werden drei unterschieden:

 

  1. Additive Aufgaben: Die Gruppenleistung setzt sich aus der Summe aller individuellen Beiträge zusammen, wie z.B. beim Seilziehen.
  2. Konjunktive Aufgaben: Das schwächste Gruppenmitglied bestimmt die Gruppenleistung, wie z.B. beim Bergsteigen.
  3. Disjunktive Aufgaben: Das beste Gruppenmitglied bestimmt die Gruppenleistung, wie z.B. bei einem mathematischen Problem.

 

Ringelmann (1928, zitiert nach Kravitz & Martin, 1986) zeigte, dass die Leistung pro Person mit zunehmender Gruppengröße abnahm, also je größer die Gruppe, desto geringer die individuelle Leistung.

 

3.2.2.     Klassische Erklärungsrichtungen: Koordinations- und Motivationsprozesse

 

Die Diskrepanz zwischen realer und potenzieller Gruppenleistung wird durch zwei verschiedene Typen von Prozessverlusten erklärt:

 

  1. Koordinationsverluste: Verluste durch die Kombination der Beiträge entstehen, wenn einzelne Mitglieder nicht bereit sind ihren Beitrag optimal in das Gruppenergebnis einzubringen. Ein bekannter Koordinationsverlust ist z.B. die „Produktionsblockierung“ beim Brainstorming (Diehl & Stroebe, 1987, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 32). Hier produzieren interagierende Gruppen weniger Ideen als nominale, weil man, während ein anderes Gruppenmitglied spricht, seine eigene Idee vergisst oder weniger produziert.

 

  1. Motivationsverluste: Einzelne Gruppenmitglieder haben eine verminderte Anstrengungsbereitschaft in der Gruppe gegenüber dem individuellen Kontext. Gängige Motivationsverluste sind:

 

    1. Soziale Faktoren: geringe Identifizierbarkeit der eigenen Anteile als Ursache für Motivationsverluste
    2. Trittbrettfahrer-Effekte: Man glaubt, die eigenen Beiträge sind entbehrlich.
    3. Gimpel- bzw. Sucker-Effekt: Wenn man glaubt, andere Mitglieder seien nicht motiviert, vermindert man eigene Anstrengungen, um nicht ausgenutzt zu werden.

 

Man kann Motivationsverluste dadurch erklären, dass nur ein geringer Zusammenhang besteht zwischen individuellem Aufwand und individuellem Ertrag. Sie können gesenkt oder gar verhindert werden, wenn die Identifizierbarkeit, die Unentbehrlichkeit sowie die Bewertungsmöglichkeit der individuellen Beiträge erhöht wird, die Aufgabe attraktiv ist und die Gruppenmitglieder sich für das Gruppenergebnis verantwortlich fühlen. (Karau & Williams, 1993; Shepperd, 1993, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 33).

 

Collins und Guetzkow (1964, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 33) weisen darauf hin, dass die reale Gruppenleistung auch höher sein kann als die potentielle, wenn die Gruppe ein Ergebnis erreicht, das weder eine einzelne Person alleine erreichen kann noch durch die Kombination der individuellen Beiträge resultieren würde. Folgende Gleichung bildet die tatsächliche Gruppenleistung ab:

 

Tatsächliche Gruppenleistung = Gruppenpotential + Prozessgewinne – Prozessverluste

 

Koordinationsgewinne gibt es nicht, also können Prozessgewinne nur durch Motivationsgewinne erreicht werden.

 

  1. Der Köhler-Effekt kann bei konjunktiven Aufgaben, wie Bergsteigen, auftreten, wenn sich vor allem die schwächeren Mitglieder einer Gruppe vermehrt anstrengen. Voraussetzung ist jedoch, dass das schwache Mitglied eine Chance sieht mithalten zu können. Dieser Effekt tritt unabhängig von der tatsächlichen Leistungsdiskrepanz ein, solange die Höhe der Diskrepanz dem schwachen Mitglied nicht bekannt ist.

 

  1. Beim sozialen Kompensationseffekt, strengen sich vor allem die stärkeren Gruppenmitglieder mehr an. Dieser Effekt ist vor allem bei additiven Aufgaben zu beobachten, wenn das starke Gruppenmitglied den Erfolg als wichtig annimmt und durch den unzureichenden Beitrag schwächerer Mitglieder das Ergebnis als gefährdet sieht.

 

3.2.3.     Kognitive Prozesse

 

Vereinfacht könnte man sagen, dass die normativen Prozesse motivational und die informationalen Prozesse kognitiv fundiert sind. Vor allem seitdem vermehrt kognitive Aufgaben Gegenstand der Forschung zu Gruppenleistung sind, scheint es angebracht, neben Koordinations- und Motivationspozessen auch eine dritte, kognitive Komponente mit einzubeziehen. Bestimmte informationale Reize von anderen Mitgliedern können den individuellen Beitrag beeinflussen. Beim Brainstorming wird z.B. durch mehrere in eine bestimmte Richtung gehende Argumente auch das Denken der übrigen Mitglieder in diese Schiene gedrängt. Andererseits kann das Hören dieser Argumente den eigenen Horizont erweitern und kognitiv stimulieren.

 

 

4.  Gruppenlernen

 

Für Schulz-Hardt et al. (2002) stellt der „Einsatz von Gruppen eine Investition dar, deren anfängliche Kosten sich erst im Laufe der Zeit amortisieren und die dann durch entsprechende Qualitätsgewinne auf individueller und kollektiver Ebene gerechtfertigt werden“. (Schulz-Hardt et al., 2002, S. 35). Solche Qualitätsgewinne sind an Lernprozesse in Gruppen gebunden. Bisher gibt es zwei Erklärungen für Leistungsverbesserungen, nämlich individuelle und kollektive Lernprozesse. Individuelles Lernen umfasst Wissenserwerb, Automatisierung und Routinisierung. Kollektives Lernen hingegen beschreibt die „Entwicklung kollektiver Handlungsroutinen und Normen (Gersick, 1988, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 36), neuer Methoden der Arbeitsteilung und Technologien (Brodbeck, 1994, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 36), sowie einen mit kollektiver Erfahrung zunehmender Konsens über Standardprozeduren, das Imitieren von erfolgreichen Vorgehensweisen anderer Firmen oder den Wissenserwerb durch Aufnehmen neuer Mitarbeiter in Arbeitsgruppen und Organisationen.“ (Levitt & March, 1988, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 35).

 

4.1.       Individuelles Lernen in Anwesenheit anderer

 

Bei additiven Aufgaben treten Prozessverluste auf. Gruppen lernen zwar mehr als Individuen, jedoch erreichen Gruppen nicht die potentielle Lernleistung, die aus der Kombination der einzelnen Lernleistungen resultieren sollte. Da es sich hier um das Erlernen neuer Verhaltensweisen oder Gedankengänge handelt, treten Hemmungseffekte durch die Anwesenheit anderer auf.

 

4.2.       Sozial vermitteltes individuelles Lernen

 

Darunter versteht man das Aufnehmen und Austauschen von handlungsrelevanter Information bei gemeinsamer Gruppenarbeit. In der sozialpsychologischen Gruppenforschung wird von „group-to-individual transfer“ gesprochen. Positiver G-I-Transfer liegt vor, wenn individueller Leistungszuwachs durch vormaliges kollektives Handeln in Gruppen entsteht. Für die Erklärung positiver Lerntransfereffekte gibt es drei Mechanismen: sozio-kognitiver Konflikt, Internalisierung von Strategien durch kollektives Handeln und Beobachtungslernen.

 

4.2.1.     Sozio-kognitiver Konflikt

 

Entwicklungspsychologische Forschungen zeigen, dass bestimmte interpersonale Konflikte in Gruppen die kognitive Entwicklung von Kindern fördern können. In Peer-groups können sich widersprechende Auffassungen beim kollektiven Handeln entstehen und die Motivation eine Lösung zu finden, kann Leistungsverbesserungen bewirken. Bedingung für eine Leistungsverbesserung ist, dass der Konflikt am Sachverhalt und nicht am sozialen Konsens orientiert ist. Im Rahmen der sozialpsychologischen Forschung über Minoritätseinfluss bei Gruppen von erwachsenen Menschen wurde herausgefunden, dass unter bestimmten Bedingungen der Minoritätseinfluss zu besserer individueller Informationsverarbeitung anregt. Wird danach gefragt was richtig ist, so tritt divergentes Denken auf. Wird jedoch danach gefragt wer Recht hat, so führt dies eher zu konventionellen Lösungsbeiträgen.

Nach Schulz-Hardt, Frey, Lüthgens und Moscovici (2000) sowie Schulz-Hardt, Jochims und Frey (2002, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 38) führt Minoritätseinfluss zu einer Reduktion von Selbstbestätigungstendenzen und somit zu einer ausgewogenen Informationssuche bei Gruppenentscheidungen. Wenn alle Gruppenmitglieder unterschiedliche Meinungen haben, so kann eine Verbesserung des Informationsflusses in der Diskussion und eine Steigerung der Lösungshäufigkeit bei Hidden Profiles beobachtet werden. (Brodbeck et al., 2002, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 38).

 

4.2.2.     Internalisierung von Strategien durch kollektives Handeln

 

Vygotsky geht davon aus, dass Problemlöseprozesse, die auf kollektiver Ebene offenbar werden und etwas oberhalb des aktuellen Entwicklungsniveaus des Lernenden liegen, zu kognitiver Entwicklung führen (Vygotsky, 1978, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 38). Der Lernende internalisiert die Strategien und zeigt dadurch in späteren Situationen bessere Leistungen.

 

4.2.3.     Beobachtungslernen

 

Laughlin und Jaccard (1975, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 38) zeigen, dass Beobachtungslernen nur bei Beobachtung kollektiver Aktivitäten möglich ist, nicht jedoch wenn man eine Einzelperson beobachtet. Mit zunehmender Erfahrung erlernen Gruppenmitglieder Handlungsstrategien, die im kollektiven Handlungskontext relevant sind. Sie lernen besser zu kooperieren, treffen Entscheidungen zügiger und können Konflikte besser bewältigen. Außerdem lernen sie Fehler schneller zu erkennen und zu korrigieren auf drei Arten: (Brodbeck & Greitemeyer, 2000b, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 38)

 

a)    G-I Transfer: sie erkennen und korrigieren eigene Fehler bei der individuellen Aufgabenbearbeitung besser

b)    Gegenseitige Fehlerkorrektur: sie erkennen und korrigieren die Fehler anderer bei der Gruppendiskussion

c)     Kollektive Fehlerkorrektur: sie erkennen und korrigieren fehlerhafte Gruppenlösungen besser.

Durch die gegenseitige Fehlerkorrektur und die kollektive Fehlerkorrektur kann man Gruppenlernen erklären.

 

4.3.       Kollektives Lernen in Gruppen

 

Seit kurzer Zeit wird eine Art „kollaboratives Denken“ auf Gruppenebene angenommen, d.h. Gruppenlernen lässt sich nicht durch individuelles Lernen erklären. Das Konzept des transaktiven Wissenssystems kann kollektives Lernen auf Gruppenebene erklären: Nach Wegner (1986, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 39) ist ein transaktives Wissenssystem „ein von einer Gruppe geteiltes System der Enkodierung, Speicherung und des Abrufs von Informationen“. Damit ist einzelnen Mitgliedern nicht nur ihr eigenes Wissen zugängig, sondern auch jenes anderer Gruppenmitglieder. Durch Fragen und um Hilfe bitten kann das verteilte Wissen für alle nutzbar gemacht werden. Stasser, Stewart und Wittenbaum (1995, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 39-40) postulieren, dass alleine das Wissen, wer über welches Wissen verfügt, die Nutzung ungeteilter Information und damit die Lösung eines Hidden Profiles verbessert. Transaktive Wissenssysteme bilden sich allerdings erst mit der Zeit. Liang, Moreland und Argote (1995, zitiert nach Schulz-Hardt et al., 2002, S. 40) zeigten, dass transaktive Wissenssysteme durch aufgabenbezogenes Gruppentraining besser entwickelt werden als durch

 

a)    Individualtraining

b)    Aufgabenneutrales Teamentwicklungstraining und

c)     Aufgabenbezogenes Gruppentraining mit anschließender Neuzusammenstellung der Gruppen.

 

Für die sozialpsychologische Forschung heißt das, dass bei Studien, in denen Gruppen nur kurzfristig zusammenarbeiten, Verzerrungen auftreten. Wenn wiederholte Aufgabenbearbeitungen auf kollektiver und individueller Ebene untersucht würden, könnte man Erkenntnisse darüber gewinnen ob auch individuelle Ressourcen durch transaktionales Wissen gefördert werden können (positiver G-I Transfer) oder gehemmt werden (negativer G-I Transfer). Dadurch, dass Gruppenarbeit unter Umständen eine Aufteilung der Arbeiten und somit eine gewisse Spezialisierung der Mitglieder auf ihr Gebiet erfordert, könnte sogar der Fall auftreten, dass ein Mitglied in einer späteren Situation nicht fähig wäre, die Aufgabe alleine zu lösen. Das Ergebnis transaktionaler Wissenssysteme wären somit Leistungsgewinne auf Gruppenebene und Leistungsverluste auf individueller Ebene. Verlässt ein Mitglied, das eine Schlüsselstellung innerhalb der Gruppe einnimmt, das Team, so kann es unter Umständen eine geraume Zeit dauern, bis die Gruppenmitglieder wieder ein effektives transaktives Wissenssystem hergestellt haben. Dieses Phänomen lässt sich nach Argote (1993) als „organizational forgetting“ (kollektives Vergessen) bezeichnen.

 

 


5.  Zusammenfassung und Ausblick

 

Wir haben gesehen, wie Fehlentscheidungen in Gruppen zu Stande kommen, und wie man sie vermeiden kann, in welchen Situationen man besser Individualentscheidungen annimmt oder auf Gruppenurteile zurückgreift.

 

Sozialpsychologische Theorien zu Leistung und Entscheidungsprozessen in Gruppen werden seit geraumer Zeit in der Arbeits- und Organisationspsychologie angewendet, um die Leistungen von Gruppen in Organisationen zu steigern. Allerdings muss eingeräumt werden, dass diese Theorien meist aus Laborexperimenten abgeleitet wurden und somit keine „real life“-Gruppen untersucht wurden. Zukünftige Forschung sollte Gruppen noch mehr als komplexe und dynamische Systeme anerkennen und sie auch im Feld untersuchen.

 

 

6.  Literaturverzeichnis

 

Schulz-Hardt, S., Greitemeyer, T., Brodbeck, F. C. & Frey, D. (2002). Sozialpsychologische Theorien zu Urteilen, Entscheidungen, Leistung und Lernen in Gruppen.

 

IN:

D. Frey & M. Irle (Hrsg.) (2002). Theorien der Sozialpsychologie. Band II: Gruppen-, Interaktions- und Lerntheorien. Bern: H. Huber (2. erw. Aufl.), S. 13-41.