Gerald Virtbauer, Mnr 9806584,     A298 Psychologie

                                                           A057 Religionswissenschaft

Proseminar Sozialpsychologie: Selbstkonzept und Selbstwert II

Dr Helga E Schachinger, SoSe2004

Vertiefungsarbeit zu Das Selbst: Annäherungen an ein Phänomen aus Schachinger, H E (2002). Das Selbst, die Selbsterkenntnis und das Gefühl für den eigenen Wert. Einführung und Überblick. Bern: Verlag Hans Huber.

 

Aspekte zum Selbst im Zen-Buddhismus am Beispiel von Dōgen Zenji´s Shōbōgenzō

Inhalt:

Einleitung

1 Genjōkōan

2 Bendōwa

3 Busshō

Abkürzungen

Anmerkungen

 

Einleitung

Im Folgenden möchte ich auf eine Annäherung zum Phänomen des Selbst eingehen, die auch die westliche Psychologie und Psychotherapie beeinflusste und beeinflusst – sowohl in Bezug auf die frühe Auseinandersetzung mit dem Buddhismus (z B Jung), als auch was den seit der zunehmenden Rezeption des Buddhismus im Westen ab der Mitte des 20. Jhdts vor allem in den USA stattfindenden Dialog Psychologie/Psychotherapie – Buddhismus betrifft.1 Gerade der Zen-Buddhismus nimmt einen entscheidenden Platz in der neueren Rezeptionsgeschichte des Buddhismus im Westen ein und fand auch von Seiten der Psychologie bald Beachtung.2 Ich beziehe mich dabei auf einen der Klassiker der Zen-Literatur: das Shōbōgenzō von Dōgen Zenji (j Zenji – wörtl Zen-Meister, ein Ehrentitel, auch Dōgen Kigen oder Eihei Dōgen). Dōgen (1200-1253) ist einer wenn nicht sogar der bedeutendste Zen-Meister Japans und gilt als eine der größten religiösen Persönlichkeiten des Landes. Die Tradition der Sōtō-Schule des Zen (neben der Rinzai-Schule die zweite bedeutende Schule des japanischen Zen-Buddhismus) wurde von ihm von China nach Japan übertragen – beide Richtungen sind mit Tausenden Klöstern in Japan und vielen Ablegern im Westen heute aktiv. „Heraus ragt im Lebenswerk Dōgen´s das Shōbōgenzō, sein opus magnum, das er der Nachwelt hinterlassen hat, ein Literaturwerk von hohem Rang und einzigartiger Bedeutung, das im Zen-Schrifttum nicht seinesgleichen hat.“3 Shōbōgenzō bedeutet auf Deutsch in etwa „Schatzkammer des Wahren Dharma Auges“ (j Shō: richtig, wahr – bō: Dharma – gen: Auge – zō: Schatzkammer,

-kästlein). Der Begriff Dharma (s – tragen, halten) ist ein zentraler Begriff des Buddhismus mit mehreren Bedeutungen. Hier ist er im Sinne des kosmischen Gesetzes, der großen Ordnung, zu verstehen – im weiteren als die Lehre des (historischen) Buddha, der diese Ordnung erkannt und formuliert hat, und zu der der Buddhist Zuflucht nimmt.4 Das Shōbōgenzō besteht aus mehreren religiösen Diskursen, die alle in sich selbst abgeschlossen sind und jeweils einen spezifischen Aspekt der Zen-Lehre bzw -Praxis behandeln. Geschrieben wurde es zwischen 1231 und 1253, wobei strittig ist, was letztendlich für diese Sammlung von Seiten Dōgen´s bestimmt war. Die modernen japanischen Editionen bestehen aus 95 Kapiteln.5 Die hier ausgewählten Abschnitte stammen aus 3 Kapiteln, die in der Sōtō-Schule als die zentralen Faszikel angesehen werden6 und auch einen guten Einblick in wesentliche Grundlehren des Zen-Buddhismus geben.

Auf zwei von vielen Problematiken im religionspsychologischen (und -philosophischen) komparativen Arbeiten möchte ich an dieser Stelle hinweisen: Wenn man mit Übersetzungen von diesem Werk und vergleichbaren asiatischen religiösen Werken arbeitet, so sind diese Annäherungen an das Original. Man muss bedenken, dass es sich um mehrere Übersetzungen handeln kann – einerseits um eine Übertragung in die moderne Landessprache, von dieser dann in die jeweilige westliche Sprache. Man hat es dabei gerade im asiatischen Bereich oft mit ideographischen Einheiten zu tun, die man nur schwer oder unzureichend mit phonographischen Mitteln in westlichen Sprachen beschreiben kann – es stellt sich hier aus psychologischer Sicht auch die Frage, inwieweit man Sprach-(und Schrift-)produktion und

-verarbeitung und damit verbundene Kognitionen zwischen den Sprachen vergleichen kann – kurz gesagt: auch bei korrekter Übersetzung muss man die unterschiedliche „Denkweise“ die hinter (und vor) der Sprache liegt mit bedenken7 und außerdem den kulturellen Gesamtkontext in dem sich Begrifflichkeiten herausbilden mit einbeziehen. Als extremes Beispiel möge hier das chinesische Dao aus dem Dao-de jing genannt werden, für das es keine wirkliche deutsche Übersetzung gibt (wird üblicherweise mit „Weg“ übersetzt – Fischer-Schreiber et al übersetzten das Dao-de jing mit „Das Buch vom Weg und seiner Kraft“8). Die hier benutzte Übersetzung basiert auf Dōgen Zenji zenshū, eine 2-bändige Edition der gesammelten Werke Dōgen´s des Sōtō-Gelehrten Ōkubo Dōshū.9

Die zweite Problematik ist eine (spezifisch) (zen-)buddhistische. Das sehr umfangreiche zen-buddhistische Schrifttum verweist immer auch auf Erfahrung – d h, der Ausdruck (in Form von religiösen Schriften) entsteht aus der Praxis und ist nicht von ihr zu trennen – also auch nicht vom praktizierenden Individuum. Als ein Charakteristikum des Zen wird die Unabhängigkeit von (heiligen) Schriften angegeben (j furyū monji) – Schriften sind „nur „der Finger der auf den Mond [die wahre Wirklichkeit] hinweist, aber nie der Mond selbst““.10 Dies ist besonders im komparativen psychologischen Bereich wichtig, da es ja das Verhalten und Erleben ist, das uns interessiert. Aus dieser Sicht ist es auch verständlich, wenn Francis Dojun Cook (auch ein Übersetzer von Teilen des Shōbōgenzō) den „idealen Übersetzer“ des Shōbōgenzō folgendermaßen charakterisiert: „The ideal translator of this literature, in my view, would be a person who knew thirteenth-century Japanese well, was sensitive to language in general, was well trained in the history, practices, and doctrines of Buddhism, and approached the text in the light of personal Zen practice. I feel that this last requirement is very important, because unless the translator has experiental insight into what Dōgen is saying, much in the text will be missed and the translation will suffer.”11 Dieser Aussage würden wohl viele Religionswissenschafter und Philologen widersprechen, sie macht aber doch auf die vorher erwähnte Problematik aufmerksam. Vor allem wenn man über die reine Übersetzung hinaus Aspekte, wie z B tiefenpsychologische, herausarbeiten will, verweist dies immer auch auf den Herausarbeitenden – dies ist allerdings kein Widerspruch zu einer Religion, bei der es nicht primär um Glauben, oder allgemeine Wahrheiten geht, sondern um subjektive Selbsterkenntnis, die das Ziel der Zen-Praxis darstellt.

In der Konfrontation mit anderen Zugängen zum Menschen liegt für die westliche wissenschaftliche Psychologie, wenn sie sich auf den Dialog (in diesem Fall mit zen-buddhistischer Psychologie) wirklich einlässt, eine große Chance.

Es geht vor allem darum,

…über die „indigene“ Natur der einzelnen lokalen Entwürfe von Psychologie zu reflektieren. Dazu muß man jenseits objektivistischer und instrumenteller Ansprüche an das eigene Fach bereit sein, dessen Ergebnisse nicht als direkte Beschreibung von Wirklichkeit zu lesen, sondern als Artefakte, die einer kulturanthropologischen Arbeit als Ausgangspunkt dienen. Bei der Analyse und beim Vergleich der unterschiedlichen Konstitutionen von Subjekt, Gesellschaften und ihren Symbolwelten (Wissenschaft miteingeschlossen) tritt die Suche nach universalen mentalen Mechanismen zurück; dafür öffnet sich der Blick auf die erstaunliche kulturelle und historische Verschiedenheit und Verschiebbarkeit des Menschenwesens.12

In diesem Sinne soll nun besonders auf die „Verschiebbarkeit des Begriffes des Selbst“ eingegangen werden.

 

1

Genjōkōan war der zweite Faszikel des Shōbōgenzō, den Dōgen verfasste. Am Begriff Genjōkōan zeigt sich die vorher erwähnte sprachliche Problematik deutlich, deshalb zitiere ich wörtlich aus dem Kommentar der Übersetzer.

The term genjō-kōan is difficult to translate satisfactorily into English. …. Genjō, literally something like “becoming manifest” or “immendiately manifesting right here and now,” does not refer to the manifesting of something previously not manifested but rather to the immense presence (or presencing) of all things as they truly are in their suchness, untouched by our conscious strivings; their ultimate reality, realized in religious practice. According to Shōbōgenzō shō, the earliest commentary on Shōbōgenzō, kōan indicates both the individuality of things and their absolute equality – “the sameness of their differences, the difference of their sameness.” Hence the term genjōkōan points to ultimate reality in which all things exist in their distinctive individuality and are at the same time identical in their “presencing” or manifesting of suchness (Ōkubo, vol. 1, 7-10).13

Dōgen behandelt in diesem Stück die Grundfrage des Realisierens des Daseins – des Manifestierens der Soheit (manifesting suchness) . Im Māhāyana-Buddhismus14 spielt der Begriff Shūnyatā (s – wörtl Leere, Leerheit) eine entscheidende Rolle und im Überwinden aller Dualitäten erkennt man als Mensch, dass alle Dinge leer von einer Selbstnatur sind. Leere ist hier nicht in einem negativen Sinne zu verstehen, sondern in einem dynamischen Aspekt – es handelt sich nicht um Nihilismus, sondern um die Erkenntnis, dass alle Dinge in ein andauerndes Werden und Vergehen eingebunden sind und in diesem Sinne nichts Dauerhaftes sind. Die Erkenntnis dieses Aspektes ist das Ziel im Zen, wodurch sich die Sicht auf die verschiedenen Phänomene verändert. „Shūnyatā trägt und durchdringt alle Phänomene und macht erst ihre Entwicklung möglich.“15 Der Mensch und das Denken des Menschen sind ein Teil dieses dynamischen Wandels – sie sind in diesem Sinne ebenfalls leer, ohne Bestand.

Practice that confirms things by taking the self to them is illusion: for things to come forward and practice and confirm the self is enlightenment.16

Buddhistische Logik kann man nicht rational begreifen – sie ist vielmehr eine rationale Logik übersteigende Logik, eine Logik im Erleben, eine Logik aus einer buddhistischen Praxis heraus. Eine jegliche Dualität übersteigende Logik kann sich nur in einer Realisation im momentanen Erleben manifestieren – nur so ist es möglich den Sinn von einer Aussage wie „A ist zugleich Nicht-A“ auch reflexiv zu erfassen.17 Ein Selbst, das sich in Abgrenzung zu einem andauernden Wandel begreift, ist eine Illusion – das „wahre“ Selbst ist nicht getrennt vom Nicht-Selbst, es ist vielmehr ein beides beinhaltendes und übersteigendes Selbst.

To learn the Buddha Way is to learn one´s self. To learn one´s self is to forget one´s self. To forget one´s self is to be confirmed by all dharmas. To be confirmed by all dharmas is to cast off one´s body and mind and the bodies and minds of others as well. All trace of enlightenment disappears, and this traceless enlightenment continues on without end.18

„Das Selbst zu vergessen heißt von allen Dingen erleuchtet zu werden“ – dharma bedeutet hier Manifestationen der Wirklichkeit, Sachverhalte, Dinge, das Phänomenale.19 Der Mensch, der sich von allen Anhaftungen loslöst, erkennt die Dinge so wie sie sind – er erfährt sich selbst nicht mehr als getrennt von seiner Umwelt, der ihm umgebenden Natur, im Endeffekt von allen Dingen. „Das Selbst zu vergessen“ bedeutet keinen bewussten Verdrängungs- oder Dekonstruktionsakt, sondern einen Akt der Selbsterkenntnis, die dann die Hilfskonstruktion die das Selbst aus buddhistischer Sicht darstellt überflüssig macht. Es geht also bei der Zen-Meditation nicht um eine Schwächung des Selbst, sondern im Gegenteil um eine Stärkung – nur ein starkes Selbst ist in der Lage die eigenen konstituierenden Bedingungen zu erkennen und damit auch die eigene Relativität zu erfahren, was dazu verhilft mit seiner ureigenen Natur, die jenseits jeglicher Konstruktion liegt, in Kontakt zu treten.20 „You have to be somebody before you can be nobody.“, wie es Jack Engler formuliert. „It is one thing to realize that none of the core attributes or functions of the „self“ require that they be attributed to a separate self – that there can be very good cohesion, continuity, and agency without this representation. In fact all the functions formerly attributed to my “self” operate even more efficiently and effectively than before. Thoughts do not need a “thinker”. Actions do not need a “doer”. But it is another and even more extraordinary thing to discover this not as a transient altered state but as a way of being.”21 Buddha-Natur verwirklicht sich im “Hier und Jetzt”, es geht um Denken und Tun im momentanen Lebensweg. “So könnte man sagen, das Wesensmerkmal des Buddhismus bestehe darin, daß er die Religion der absoluten Dies-Seite sei.“22

Even were there a bird or fish that desired to proceed further on after coming to the end of the sky or the water, it could make no way, could find no place, in either element. When that place is attained, when that way is achieved, all of one´s everyday activities are immediately manifesting reality. Inasmuch as this way, this place, is neither large or small, self nor other, does not exist from before, does not come into being now for the first time, it is just as it is.23

Erlebnisfähigkeit zu verstärken, oder neu zu entwickeln, sich von Projektionen zu lösen, das  Erleben nicht durch eigene gedankliche Einschränkungen zu blockieren, sich vom Erleben der Mitmenschen und überhaupt von der Natur berühren zu lassen, sind einige Aspekte einer buddhistischen Praxis – Meditation ist kein Selbstzweck sondern eine Schulung des Geistes die Verwirklichung (oder auch Vermenschlichung) erleichtern soll.

Because it is as it is, if a person practices and realizes the Buddha Way, when he attains one dharma he penetrates completely that one dharma; when he encounters one practice, he practices that one practice. Since here is where the place exists, and since the Way opens out in all directions, the reason we are unable to know its total knowable limits is simply because our knowing lives together and practices together with the full penetration of the Buddha Dharma.24

 

2

Von Bendōwa wird oft behauptet, dass es die Essenz aller 95 Faszikel des Shōbōgenzō enthält – Bendōwa gibt eine Einführung in die Praxis des zazen (j – Sitzzen (-meditation)). Wadell und Abe übersetzen es mit „Negotiating the Way“ – „Den Weg aufnehmen“.25 Es ist in zwei Abschnitte geteilt, wobei Dōgen im ersten den Vorzug des zazen gegenüber allen anderen buddhistischen Praktiken erklärt. Im zweiten wird in Form eines Frage- und Antwortformates auf mögliche unklare Punkte näher eingegangen.

The Dharma is amply present in every person, but without practice, it is not manifested; without realisation, it is not attained. It is not a question of one or many; let loose of it and it fills your hands. It is not bounded vertically or horizontally; speak it and it fills your mouth. Within this Dharma, Buddhas dwell everlastingly, leaving no perceptions in any sphere or direction; all living beings use it unceasingly, with no sphere or direction appearing in their perceptions.26

Perceptions – sinnliche Wahrnehmungen – bezieht sich nicht nur auf die fünf Sinne, sondern auch auf das (bewusste) Denken. Hier kommt zum Ausdruck, was einen Buddha (einen Erwachten) von den Lebewesen unterscheidet, die genauso in den Dharma eingebunden sind, aber dies noch nicht realisieren.

…when just one person does zazen even one time, he becomes, imperceptibly, one with each and all of the myriad things and permeates completely all time, so that within the limitless universe, throughout past, future, and present, he is performing the eternal and ceaseless work of guiding beings to enlightenment.27

Zen-Meditation ist kein von anderen Lebewesen zu trennender Weg, keine Selbsterlösung oder Selbstverwirklichung (zumindest nicht in einem auf ein Ego bezogenen Sinn). Zazen ist auch nicht in dem Sinne zu verstehen, dass es Erleuchtung produziert – Erleuchtung ist vom Praktizierenden unabhängig. „The merits of enlightenment are realized not only during zazen but also before and after. While zazen is essential for realizing shunyata or emptiness, the fundamental reality of the universe, the working of emptiness is beyond zazen and not affected or produced by it.”28 Im folgenden möchte ich anhand der Erklärung von Katsuki Sekida kurz genauer auf die Beschreibung der Vorgänge im zazen eingehen.29 Sekida unterscheidet drei nen(j – „im Herzen Verborgenes“ – Gedanke, Idee, Wunsch)-Tätigkeiten des Geistes – drei verschiedene Gedankenimpulse. Diese drei nen arbeiten in unserem Geist unabhängig voneinander, wobei sie einander bedingen, jedoch immer nur ein nen in unserem Bewusstsein vorhanden ist und dieses ausmacht – auch wenn es uns subjektiv anders erscheinen mag. Sekida verwendet folgendes Beispiel als Erklärung: Wenn man sich denkt „Das Wetter ist heute schön.“, so nimmt man das Wetter wahr, ohne dies bewusst zu registrieren (1. nen); durch die Reflexionstätigkeit des Bewusstseins, die unmittelbar nach diesem ersten Gedankenimpuls einsetzt, wird man sich bewusst, dass man denkt (2. nen) – „Ich habe gerade gedacht, dass das Wetter heute schön ist.“. Jedoch weiß auch dieser 2. nen noch nichts von sich selbst. Es bedarf eines weiteren Reflexionsvorganges Richtung Selbst-Bewusstsein, der mit seinen Vorgängern verknüpft ist: „Ich weiß, dass ich gerade gemerkt habe, das ich den Gedanken hatte: Das Wetter ist heute schön.“ (3. nen). Denken besteht nun aus einer andauernden Abfolge dieser Impulse, wobei dies dynamisch passiert und nicht wirklich schematisch darstellbar ist. „Thus each subsequent third nen dynamically consolidates all of the previous third nen and at the same time brings to itself a new series of first and second nen, which inevitably intervene in the flow of mental action. Thus any given third nen presents in itself all the previous nen.”30 Sekida beschreibt in seiner nen-Theorie sehr genau, was unser Denken und daraus folgende Verhaltensweisen ausmacht. Ich möchte hier (nur kurz) auf den Aspekt des Selbst-Bewußtwerdens eingehen und wo es in dieser Theorie seinen Platz hat. Sekida gibt zum Zen-Spruch „Kein Mensch, sondern Verursachung“ folgende Erklärung.

All is the outcome of cause; everything is itself a cause. We are all of us subject to constant mutation under this law. There is no constant self. It may make you dizzy to reflect that nothing remains of your childhood of twenty or fifty years ago. Quite a different person has slipped into your shoes, and not your innocent baby shoes, either, which would be split by your feet today. Nothing is left of the child except of one thing, your existence itself. The line that runs from your childhood to the present can be replaced by no other line. Link after link of cause and effect have been handed down to the present, and there is nothing to be called a person. There is nothing to hold onto, nothing to cling to. …. Moment after moment this existence succeeds itself and constantly changes.31

Was nun durch zazen passieren sollte, ist, dass man diese Linie zu realisieren im Stande ist. Durch ein Zur-Ruhe-Kommen aller Gedankenimpulse, sollte unser Geist immer mehr in der Lage sein, das Entstehen der eigenen Gedanken zu erkennen. „The aim of practicing zazen is to lead us to scrutinize our nen-actions, to restore them to their purest form, to give existence its eye to see itself, to reconstruct the way of consciousness, emancipated from its delusive habit, and to let existential life start its proper development.“32 Daraus folgt, dass man sich von den eigenen konstituierenden Bedingungen, von der Illusion von einem konstanten Menschen (oder Selbst), lösen kann, dass man nicht mehr zum Opfer sondern zum Gestalter seiner Person wird, die durch die einzigartige Linie von Verursachung entstanden ist. Es geht um die Aufdeckung des Irrglaubens, „…daß man Gegenstände seiner Erfahrung mit seinem Geist fehlerlos beherrscht. Eigentlich ist es genau umgekehrt: Nicht der Mensch beherrscht die Sache, sondern der Gedanke, den der Mensch je nach der gegebenen Situation selbst erzeugt, dominiert ihn und bestimmt seine weitere Lebensweise.“33 Man sollte sozusagen frei (im Sinne von unabhängig) von selbst (wenn auch unbewusst) erzeugten dominierenden Gedanken seine Weichen stellen können.

Those who practice are themselves aware of their attainment or non-attainment, just as a person knows without any doubt whether the water he is using is warm or cold.34

 

3

Busshō, der längste der 95 Faszikel des Shōbōgenzō, wurde 1241 vorgetragen – Busshō (j) bedeutet “Buddha-Wesen”, bzw “Buddha-Natur”. “Nach der Lehre des Zen hat oder, besser noch, ist jeder Mensch (wie jedes Lebewesen und Ding) Buddha-Wesen, ohne dessen jedoch im allgemeinen gewahr zu sein und dieses Gewahrsein auch zu leben, wie es ein zu seinem Wahren-Wesen Erwachter (Buddha) tut.“35 Dōgen behandelt die Thematik indem er wichtige Abschnitte aus der chinesischen Zen-Literatur kommentiert – und das aus seiner radikal nicht-dualistischen Sichtweise.36

What is the essence of the World-honored One´s words [Shakyamuni Buddha´s Worte], All sentient beings without exception have the Buddha-nature? [Dōgen bezieht sich auf eine Stelle des Nirvana Sutra, ch 27] It is his utterance of the Dharma teaching: “What is this that thus comes?” Whether you speak of “living beings,” “sentient beings,” “all classes of living things,” or “all varieties of living beings,” it makes no difference. The words entire beings [shitsuu] mean both sentient beings and all beings. In other words, entire being is the Buddha-nature: I call the whole integral entity of entire being “sentient beings.” Just at the very time when things are thus, both inside and outside of sentient beings are, as such, the entire being of the Buddha-nature.37

Die typische Frage im Mahāyāna-Buddhismus, ob alle fühlenden Wesen oder überhaupt alle Dinge die Buddha-Natur haben, beantwortet Dōgen ganz klar: „Alles Dasein ist Buddha-Natur.“ David Brazier geht in seiner Beschreibung von der therapeutischen Relevanz des Zen-Buddhismus näher auf den Begriff „Buddhata“ ein.

We need words and so we provisionally call the core element of a person „their buddha nature,“ but buddha nature is not to be thought of as a thing (like a soul) and certainly not really as anything that could be considered to be “theirs” or “our own”. Buddha nature is simply the fact that a person is, in every particular, dimension and element, part and parcel of the cosmos. The Zen vision, therefore, is one of primordial unity, not one of separate existence.38

Brazier ortet hier einen entscheidenden Unterschied zwischen Zugängen zum Menschen aus der Sicht westlicher psychologischer/psychotherapeutischer Ansätze und einem buddhistischen Menschenbild.

However, western psychology generally leans toward the idea of a self, soul or psyche which exists as an entity in its own right and which can make demands and claims. This is all in accord with long-standing western tradition where, especially in America, a culture has been created around the idea of individual rights and needs. Buddhist psychology, however, recognizes no such entity. The buddha nature is not a soul which makes any demands upon other souls. The buddha nature is simply the fact that the universe lives in us and we in it. This identity of self and cosmos is the ultimate foundation of Zen ethics.39

Ethik und Moral sind nicht getrennt von der menschlichen Natur zu sehen, der Naturzustand des Menschen ist aus buddhistischer Sicht ein harmonischer, mit allem Sein (und Nicht-Sein) verbundener. Es ist also nicht notwendig den Naturzustand durch Gebote und Regeln in seine Schranken zu weisen – die Natur des Menschen ist ursprünglich keine konfliktbehaftete, sondern eine harmonische. Was der Buddhismus fordert, ist aber nicht die Verdrängung von sexuellen Trieben und Todestrieben (um die Freudsche Terminologie zu verwenden), sondern, im Gegenteil, das Entstehen von inneren Spannungen jeglicher Art immer mehr zu erfassen um dann in einer bewussten Weise darauf zu reagieren. Dieses „Reagierenkönnen“ im Einklang mit dem, was unsere Natur ausmacht, ist nicht als Belastung zu verstehen.

Since buddha nature is our inseparable unity with the whole of existence, ethics are not seen as a restriction, but as a liberation. …. To act in an unethical way is to act against ourselves. Liberation is thus in no way served by kicking over the traces. Indeed, the liberated mind does not perceive any traces.40

Barry Magid schreibt im Kapitel “No Self” seiner Abhandlung über Psychotherapie und Buddhismus zu dieser Problematik folgendes.

By formulating alternative, nonessentialist dynamic explanations for subjective feelings of drivenness – accounts that do not rely on the existence of underlying, universal, and permanent drives – self psychology, intersubjectivity theory, and other relational models have come around to a perspective far more compatible with Buddhist models of the mind than was ever possible while the Freudian picture held sway. Rather than assuming the existence of, for example, an immutable human tendency for aggression or destructiveness, these new psychoanalytic models ask us to look into the specific contexts in which aggression arises. We then discover that narcissistic injuries (i.e., traumatic blows to our self-esteem) often trigger aggressive responses. Different individuals will display varying degrees of narcissistic vulnerability, and what counts as an injury may change over time. With practice, the insult that once provoked rage can be shrugged off. Our anger, rather than being a biologically predetermined part of our psyche, is a highly mutable, context-dependent variable, one we can observe, understand, and ultimately transform.41

Das “wahre Selbst”, von dem im Zen die Rede ist42, ist weder in irgendeiner Form klassifizierbar, noch in einen psychischen Apparat, wie immer dieser auch aussehen mag, einzupassen – das Selbst des Menschen ist nicht vom eigenen und umgebenden Leben zu trennen.

With „Buddha“ and „nature,“ if you penetrate one, you penetrate the other: Buddha is nature, nature is Buddha. Buddha-nature is always entire being, because entire being is the Buddha-nature. …. There can be no Buddha-nature that is not Buddha-nature manifested right here and now.43

Selbsterkenntnis ist Selbst-Relativierungs-Erkenntnis und ein Überwinden der durch das eigene Denken gesetzten Selbst-Grenzen.

If you want to see the Buddha-nature, you must first eliminate self-egoism. [In Bezug auf Nagarjuna] You must without fail discern and affirm the essential significance of this. It does not mean the absence of seeing. Seeing is in itself the elimination of self-egoism. The self is not a single self. Self-egoism exists in great variety. Eliminating is of great diversity. But, nevertheless, all are seeing Buddha-nature. You must accustom yourself to your own ordinary seeing.44

 

Abkürzungen

heart                                       Waddell, N, Abe, M (2002). The heart of Dōgen´s Shōbōgenzō. Albany: State University of New York Press.

Ōkubo                                     Dōgen Zenji zenshū, 2 vols., Tokyo, 1969.

j                                              Japanisch

s                                              Sanskrit

 

Anmerkungen

1          Siehe die Einführung in die Rezeptionsgeschichte des Zen-Buddhismus im Westen von Dumoulin, H (1990). Zen im 20. Jahrhundert. München: Kösel. Einen Überblick über Jung´s psychology of religion gibt Wulff, D M (1997). Psychology of Religion. Classic and Contemporary. New York: Wiley. S 434-453. Eine Übersetzung des Originalprotokolls von Jungs Sekretärin Aniela Jaffé zur Konversation C G Jungs mit dem Zen-Meister und Philosophen der Kyoto-Schule Shin’ichi Hisamatsu aus dem Jahre 1958 gibt Muramoto, S (2002) (icw Young-Eisendrath, P, Middeldorf, J), The Jung-Hisamatsu Conversation, in P Young-Eisendrath, S Muramoto (ed). Awakening and Insight. Zen Buddhism and Psychotherapy. New York: Taylor & Francis. S 109-121.

2          Ein noch immer verlegter Klassiker des frühen Dialoges Zen – Psychoanalyse ist das im Rahmen einer Arbeitstagung von 1957 entstandene Buch von Fromm, E, Suzuki, D T, Martino, R de (1971). Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Frankfurt a M: Suhrkamp. (oe „Zen Buddhism and Psychoanalysis“, 1960).

3          Dumoulin, H (1986). Geschichte des Zen-Buddhismus. Band II: Japan. Bern: Franke. S 51.

4         Siehe Fischer-Schreiber, I, Ehrhard, F-K, Friedrichs, K, Diener, M S (1986). Lexikon der östlichen Weisheitslehren. Buddhismus-Hinduismus-Taoismus-Zen. Bern: Scherz Verlag. S 92.

5          Zur Problematik der verschiedenen Zusammenstellungen des Shōbōgenzō sowie zur hier verwendeten Übersetzung siehe heart S xi-xiii.

6          Siehe heart S 59.

7          Eine Zusammenschau über verschiedenste psycholinguistische Studien zu diesem Thema gibt Chen, H-C (ed) (1997). Cognitive processing of chinese and related asian languages. Hong Kong: The Chinese University Press.

8          Fischer-Schreiber et al (1986) S 384.

9          Siehe heart S xiii, Ōkubo.

10        Fischer-Schreiber et al. (1986) S 113.

11        Cook, F D (2002). How to raise an ox. Zen Practice as Taught in Master Dogen´s Shobogenzo. Boston: Wisdom. (oe 1978). S 60.

12        Siehe Slunecko, T (2002). Von der Konstruktion zur dynamischen Konstitution. Beobachtungen auf der eigenen Spur. Wien: WUV. S 201.

13        heart S 39,40.

14        Der Zen-Buddhismus wird als Meditations-Schule des Mahāyāna-Buddhismus (s mahāyāna – wörtl großes Fahrzeug) bezeichnet (j zen – Meditation).

15        Fischer-Schreiber et al (1986) S 352.

16        GENJŌKŌAN, heart S 40.

17        Siehe dazu Hashi, H (2000). Vom Ursprung und Ziel des Zen. Wien: Edition Doppelpunkt, vor allem Zyklusvorlesung VIII „A ist Nicht-A“ – die Logik des zugleich seienden Widerspruchs, S 52-59.

18        GENJŌKŌAN, heart S 41.

19        Siehe Fischer-Schreiber et al (1986) S 92.

20        Im Buddhismus spricht man in diesem Zusammenhang von der Buddha-Natur (s Buddhatā), die jedem Mensch eigen ist – Buddha (s) bedeutet „der Erwachte“ – Buddha-Natur „Erwachte-Natur“, wirkliche (wahre) Natur, siehe Punkt 3.

21        Aus Engler, J (2003). Being Somebody and Being Nobody: A Reexamination of the Understanding of Self in Psychoanalysis and Buddhism. In J D Safran (ed). Psychoanalysis and Buddhism. An unfolding dialogue. Boston: Wisdom. S 35-79, hier S 35, 65.

22        Nishitani, K (2001). Was ist Religion?. Frankfurt: Insel Taschenbuch. (oe jap 1961, dt 1982). S 176.

23        GENJŌKŌAN, heart S 44.

24        Ebd.

25        heart S 7.

26        BENDŌWA, heart S 8.

27        Ebd S 13.

28        Ebd Anmerkung 27, S 14.

29       Siehe Sekida, K (1985). Zen training. Methods and Philosophy. New York: Weatherhill; v a Chapter 10 Three Nen-Actions and One-Eon Nen, S 108-127. Sekida beleuchtet Zen-Meditation aus verschiedenen Blickwinkeln (bspw auch neurophysiologisch) – die nen-Theorie ist ein Teil seines Bemühens, Zen-Meditation wissenschaftlich greifbar zu machen. Eine sehr umfassende Monographie zu biologischen Vorgängen in Bezug auf die Zen-Meditation ist Austin, J H (1998). Zen and the Brain. Toward an Understanding of Meditation and Consciousness. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Siehe auch Wulff (1997) Chapter 5 Religion in the Laboratory, S 169-204.

30        Sekida (1985) S 112.

31        Ebd S 122.

32        Ebd S 119, “existential life” bezieht sich auf die ureigene Natur des Menschen, die Buddha-Natur; siehe Punkt 3.

33        Hashi (2000) S 15.

34        BENDŌWA, heart S 25.

35        Fischer-Schreiber et al (1986) S 61.

36        Siehe heart S 59,60.

37        BUSSHŌ, heart S 60,61.

38        Brazier, D (1995). Zen Therapy: Transcending the Sorrows of the Human Mind. New York: Wiley, 3 Buddha Nature, S 33-43, hier 35.

39        Ebd.

40        Ebd S 36,39.

41        Magid, B (2002). Ordinary Mind. Exploring the Common Ground of Zen and Psychotherapy. Boston: Wisdom, Chapter Six No Self, S 63-75, hier S 72.

42        Siehe Hashi (2000) S 38.

43        BUSSHŌ, heart S 64,67.

44        Ebd S 78; Nagarjuna (s) wird im Zen als der 14. Patriarch genannt, siehe heart S 77,78.